Blur - The magic whip
Irgendwie fühlte Graham Coxon, dass er Blur nach seinem Ausstieg während der Arbeiten an "Think Tank" zumindest dieses eine Album schuldig war. Also nahm er sich Ende 2014 mit Produzent Stephen Street noch einmal die im Mai 2013 entstandenen Demoaufnahmen vor.
Niemals aufgeben, niemals kapitulieren! Coxon gab sich nicht geschlagen, zerlegte die Aufnahmen in ihre Einzelteile, arrangierte sie neu, füllte die Lücken mit seinen charakteristischen Licks und unkonventionellen Soli, ohne sich dabei ins Rampenlicht zu drängeln. So lange, bis er zufrieden war und Albarn, James und Rowntree einen Weg aufzeigte, in welche Richtung sich die erste wirkliche Blur-Platte seit "13" entwickeln könnte.Vielleicht liegt genau in Coxons Herzblut der Grund, warum einem nie das Gefühl überkommt, einfach nur einem weiteren Albarn-Projekt zuzuhören, sondern, dass hier tatsächlich Blur am Werk sind. Zwar steht der Frontmann naturgemäß im Mittelpunkt, doch gehört "The Magic Whip" mindestens zum gleichen Teil dem einst verloren gegangenen Gitarristen.
Immer wieder verirren sich asiatische Klänge und Melodien in die zutiefst britischen Arrangements. Um sich inspirieren zu lassen und die Texte zu vollenden, kehrte Albarn nochmals an den Ort der Aufnahmen zurück. Anstatt London und England bilden nun Hong Kong und China die Spielwiese für seine Beobachtungen. In diesem Schmelztiegel, in dem einem selbst das beste Englisch keinen Schritt weiter hilft, wirken Blur ebenso Lost In Translation wie einst Bill Murray in den Straßenschluchten Tokios. "Green neon / carved out of grey white skies." ("New World Towers")
Mit "Lonesome Street", einem beruhigendem Echo ihrer vergangenen Britpop-Tage, gelingt ihnen mit Grahams hastigen Gitarrenriffs und Alex' sprudelnden Bass ein zuversichtlicher Einstieg. Ähnlich wie im später folgenden "Ong Ong" zelebrieren Blur die große Kunst des alles verbindenden "La-la-las", haben ein munteres Pfeifen auf den Lippen und nehmen den "5.14 to East Grinstead", direkt ins Jahr 1995.
Doch die Perspektive ändert sich abrupt. "There are too many of us / in tiny houses here and there / all looking through the windows / on everything we share." Albarns düstere Gedanken über die zunehmende Überbevölkerung unseres Planeten, nicht nur in China, verfestigen sich im stickigen Smog Hong Kongs. Eingeengt zwischen einem grimmigen Militärmarsch und entrückten Keyboards vergisst der Sänger dabei nicht, dass das Wort "us" eben auch ihn selbst einbezieht. Wir sind alle kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Unter dem rotzig verschrobenen Überschwang von "Go Out" baut sich langsam, aber deutlich, unheilvolles Misstrauen auf. Während Damon in ein kauziges "To the local, to the lo-o-o, I go out, To the lo-o-o-o-ocal, by myself" verfällt, lässt James seinen Bass ruckartig aufschlagen. Grahams spröder Lärm steigert sich zu einem misstönenden Solo.
Das "Ghost Ship" lädt mit dem von Rowntree und James vorgelegten schlendernden Dub-Sound und Coxons sonnendurchfluteten Gitarren zu einer zurückgelehnten Kreuzfahrt mit The Clash und The Specials ein. Kindlich verspielt klickt, fiept, ziept und sprudelt "Ice Cream Man". Langsam baut sich um eine simple Akkordfolge Spannung auf. Mag der erste Blick eine wehmütige Erinnerung an einen Sommertag des Jahres 1989 herauf beschwören, handelt es sich doch bei genauerer Betrachtung um Albarns Erinnerungen an das Tian'anmen-Massaker in Peking im Jahr 1989. "With a swish of his magic whip, all the people in the party froze."
Das eindrucksvolle "Pyongyang", benannt nach der nordkoreanischen Hauptstadt, leiht seinen Basssound bei Japans Mick Karn. Ein beklemmendes, graues Stück, in dessen Verzweiflung und spürbarer Unterdrückung sich auch subtile Akzente von Trost und Hoffnung finden.
"Thought I Was A Spaceman" beginnt wie ein übrig gebliebenes "Everyday Robots"-Stück. In weiter Ferne singt ein trauernder Albarn zu minimalistischer Elektronik: ein eiskaltes Echo einer untergegangenen Kultur. "The desert had encroached upon the places were we lived." Mehr und mehr schmuggeln sich James Bass und Coxons leise schnarrende Gitarre ins Bild, bis Rowntrees Einstieg einen Blick auf eine vollkommen runderneuerte Blur-Identität freigibt. Packend, komplex und verdreht. Im letzten Drittel übernimmt Coxon das Mikro. Die Temperatur sinkt um weitere zehn Grad, bis sein Solo, von seiner Dramaturgie dem von Mick Ronson in Bowies "Moonage Daydream" nicht unähnlich, weiter und weiter ins All abdriftet.
Weder rennen Blur mit "The Magic Whip" der "Parklife"-Hitdichte nach, noch zeigen sie sich auch nur halb so verkopft wie auf ihren letzten Longplayern. Viel mehr stellen sie sich entspannt ihrem Erbe, klingen natürlich und unverkrampft und lassen all die Einflüsse, die sie mit Coxons Solo-Werken, den Gorillaz, The Good, The Bad And The Queen, Rocket Juice And The Moon, Mali Music, Monkey oder letztendlich Albarns "Everyday Robots" gesammelt haben, einfließen. Fast scheint es, als hätte es all diese Abenteuer nur gegeben, um den Kopf frei zu bekommen, sich endlich wieder aufeinander einzulassen und die gesammelten Erfahrungen miteinander zu verbinden.
Während sich andere Bands nach ihrem Comeback in der Sicherheit ihrer eigenen Legende suhlen, erliegen Blur nicht der Verlockung der Selbstkopie. Viel mehr definieren sie mit zwölf Schnappschüssen aus Hong Kong, mal kunterbunt schreiend, mal im harten, körnigen Schwarzweiß gehalten, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Danke Graham, dass du diese Platte nicht verloren gegeben hast.(Quelle: Laut.de)
Tracklist:
01 – Lonesome Street
02 – New World Towers
03 – Go Out
04 – Ice Cream Man
05 – Thought I Was a Spaceman
06 – I Broadcast
07 – My Terracotta Heart
08 – There Are Too Many of Us
09 – Ghost Ship
10 – Pyongyang
11 – Ong Ong
12 – Mirrorball
13 – Y’all Doomed
02 – New World Towers
03 – Go Out
04 – Ice Cream Man
05 – Thought I Was a Spaceman
06 – I Broadcast
07 – My Terracotta Heart
08 – There Are Too Many of Us
09 – Ghost Ship
10 – Pyongyang
11 – Ong Ong
12 – Mirrorball
13 – Y’all Doomed
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