They Might Be Giants - Glean




"Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten" – so der Volksmund spricht. Bei They Might Be Giants verhält sich das anders: Hier darf dieses Jahr mit Freuden gewählt werden, ohne Unterlass und mit einem neuen Spitzenkandidaten pro Woche. "Dial-A-Song", ihre Geschäftsidee aus den 1980er Jahren, mit der sie ihren ersten Plattenvertrag einheimsten, ist wieder da. Damals war es nur der eigene Anrufbeantworter, den das Duo statt mit der üblichen Textansage mit täglich neuen Demotapes fütterte, bis das letzte verfügbare Gerät anno 2006 in Rauch aufging. Heute müssen neben der Hotline-Nummer zudem etliche Netzwerke als Geburtsanzeiger für neue Songs herhalten. Was in der Summe vom simplen Internet-Stream über einen Verbund von Radiostationen bis hin zur Applikation für mobile Endgeräte reicht. "Glean" versteht sich demnach als Inventur der bisherigen Ergebnisse, der ein weiteres Album mit Kinderliedern sowie eine abschließende Kompilation folgen sollen, sobald die geplanten 52 Songs beisammen sind. Und welcher Fan freut sich nicht über solch penible Sammelleidenschaft?
Der Funken Freude könnte dieses Mal wiederum von getreuen Anhängern auch auf andere Ohren überspringen. Denn "Glean" distanziert sich völlig vom aufgeblasenen Kaugummi-Jargon des Vorgängers "Nanobots". Die Platte pflegt stattdessen gedämpftere Töne schalkhaften Indie-Rocks, die schon "Join us" gut zu Gesicht standen, aber erst jetzt zu voller Eleganz finden. Kein Platz mehr also für zähneknirschende Auswüchse im Klangbild. Die Zückerchen wurden bekömmlicher auf ein ganzes Drittel Startkandidaten weniger verteilt. Außerdem hat die symbiotische Verbindung aus musikalischer Eingängig- und textlicher Boshaftigkeit weiterhin Bestand. Nur, dass sie heute in ungewohntem Glanz erstrahlt und der mörderische Verdrängungsmechanismus "Erase" zu Beginn umstandslos kurzen Prozess mit den Schatten der überproduzierten Vergangenheit macht.
Unvorstellbar, dass diese Bescheidenheit auch nur ein Jota an der naseweisen Zitierwut von They Might be Giants ändern könnte. Stattdessen ruft Linns zu Tode erschrockenes Akkordeon während des Überlebensdramas "Good to be alive" seine Rettung in Form einer winzigen Synthi-Figur herbei, die schon Hot Butters "Popcorn" bei Kräften hielt. "Music jail, pt 1 & 2" hingegen erweist sich als bipolare Störung, die sich nicht zwischen Kindergarten-Klezmer oder Teletubby-Tango entscheiden mag. Kurzerhand wirft sie ihre rotzigen Snare-Triolen so lange in den Behandlungsraum, bis ihr trauter Sixties-Pop zur Beruhigung verordnet wird. "Answer" hingegen liegt völlig unbescholten in der Mitte einer Straße, die die beiden höchstens für Momente betreten, um sie mit Paukenschlägen wie dem sich als zerstörte Aufnahme tarnenden Oberbrüller "Unpronounceable" oder dem Bebop-Gemetzel "Let me tell you about my operation" ebenso fluchtartig wieder in Richtung liebenswerter Eigenbrötlerei zu verlassen. Erstaunlich ernst und nachdenklich fällt hingegen "Underwater woman" aus, das sich ohne die üblichen Frotzeleien mit den Folgen depressiver Erkrankungen befasst und gerade als Kontrast zum restlichen Vergnügungsviertel ganz ausgezeichnet funktioniert.
"Glean" besteht somit als genreübergeifendes Sammelsurium, das mancher Indie-Nerd zum Überleben in all der kommerziellen Finsternis brauchen wird. Und das dessen empfindsame Freundin nicht unmittelbar in die Flucht treibt. Viel Spaß dann beim gemeinsamen Referenzenraten vorm Kamin, der Abend kann lang werden. Wo ist meine Brille? (Quelle: Plattentests.de)


Tracklist:
  1. Erase
  2. Good to be alive
  3. Underwater woman
  4. Music jail, pt 1 & 2
  5. Answer
  6. I can help the next in line
  7. Madam, I challenge you to a duel
  8. End of the rope
  9. All the lazy boyfriends
  10. Unpronounceable
  11. Hate the Villanelle
  12. I'm a coward
  13. Aaa
  14. Let me tell you about my operation
  15. Glean
Clip:
End of the rope

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