Arcade Fire – Everything Now



Ein beherzter Daumen-Wischer durch die Timeline, schnell noch ein Posting liken, dann ein unüberlegter Kommentar. Eilmeldungen quasi im Minutentakt, ein Live-Ticker hier, "Breaking News" da: Everything now, sozusagen. Das digitale Leben hat eine Geschwindigkeit entwickelt, die einen überrumpelt wie die jüngsten weltpolitischen Entwicklungen. Nachhaltige Momente, die in positiver Erinnerung bleiben, sind rar gesät, und doch gibt es sie. In musikalischer Hinsicht dürfte man sich 2017 zumindest an den 31. Mai erinnern. Jenen Tag, an dem dieses dreiste Klavier-Thema von "Everything now", dem ersten Vorboten zu Arcade Fires gleichnamigen fünftem Album, erstmals in hunderttausende Ohren kroch – und über Monate nicht mehr heraus wollte. Selten pirschte sich dieser bandgewordene Everybody's Darling aus Montreal, Kanada, in dessen Backkatalog sich weiß Gott schon das ein oder andere prägnante Stück Pop eingenistet hat, so unvermittelt in die Synapsen ihrer Gefolgschaft.
Und die? Frohlockt, schwelgt, hüpft und tanzt. Wozu einen diese fantastische Band eben so animiert. Jedoch waren Irritationen zu vernehmen: "Das klingt schon fast nach Flippers", war dabei wohl eine der originellsten. Klar klingt die Single "Everything now" einigermaßen käsig. Doch auch deshalb so großartig: Der Mut zum unumschweiflichen Siebzigerjahre-Disco-Pop, den einst ABBA und heute Daft Punk hätten kaum klarer fassen können – logisch, saß deren Thomas Bangalter doch mit an den Reglern –, garniert mit Panflöte und "Na na na"-Chor, in den Strophen konterkariert von der typischen, bittersüßen Melancholie in Win Butlers Stimme. Und natürlich von den Lyrics, die den lieblichen Wohlklang splitternackt ins bittere Scheinwerferlicht rücken. Heile Welt? Mitnichten. "We turn the speakers up till they break / 'Cause everytime you smile it's a fake." Hinter der Fassade lauert doch meistens das Abgründige.
Mediale Hektik jedenfalls ist für Butler, seine Frau Régine Chassagne und ihr Kollektiv kein Terrain, wenngleich es ohne Teaser heutzutage natürlich nicht geht. Ironisch-überspitzte Promo-Aktionen wie die Intiative der "Everything-Now-Corp", die den ach so promo-unwilligen Musikern ihre Kampagne aufzwingen muss, oder die aufwändige Wüsten-Installation für das Video zu "Everything now", ließen Like- und Retweet-Zahlen explodieren. Ob der bildgewaltigen Momente übersah man fast, dass Arcade Fire tatsächlich vier neue Songs schon vorab auskoppelten. Viel Gutes? Oder zu viel des Guten? Zunächst jedenfalls reichlich Futter für die Diskussion in den Musikforen. Über "Signs of life" etwa, dieses funky Tanzbonbon, im Refrain leicht penetrant geschwitzt, hintenraus aber ausdauernd genug, Discokugel und Strobo-"Reflektor" noch einmal auf Hochtouren zu bringen. Oder "Electric blue", dieses allein von Régines Pieps-Organ regierte, funkelnde Electronica-Stück, das den besonderen Charme, den einst "Sprawl II" im "The suburbs"-Kosmos entfachte, schuldig bleibt.
Schuldig sprechen für die hohen Erwartungen dagegen sollte man "Creature comfort", ein wahrhaftig großartiges Beat-Monster mit Killer-Keyboard und bissigem, zähnefletschendem Text, welches das Dilemma der modernen Konsumgesellschaft spiegelt: "God, make me famous! / If you can't / Just make it painless." Das sitzt. Fortan jedoch ist es eine nicht allzu leichte Aufgabe, "Everything now" als Gesamtwerk einzuordnen. Für erste Stirnfalten sorgt der Mittelteil: Der Dub-beschwipste "Peter Pan" schwingt sich nebst allerlei akustisch-exotischem Hintergrundgetöse auf zum juvenilen Abenteuer, kann in seiner kitschig-monotonen Behäbigkeit aber nicht so recht für Aufbruchstimmung sorgen. "Chemistry" gelingt das etwas besser, doch muss sich als Funk-infiziertes Stück, das auf einem Offbeat um die Magie der Begierde herumhüpft, schon bald vom ersten Teil des post-punkigen (und anscheinend unfertigen) Interlude-Duos "Infinite content" in die Schranken weisen lassen: "On infinite content / We're infinitely content / All your money has already spent." Das Individuum in seiner Komfortzone, als unmündige Marionette. Und Butler lässt die Gitarre trotzig aufbrausen.
Das Schlussdrittel beginnt atmosphärisch, schickt das düstere, mit markantem Basslauf bestückte "Good God damn" voraus, gefolgt vom feinen Siebzigerjahre-Schunkler "Put your money on me" und dem tollen, berührend-resignativen Finale "We don't deserve love". Möchte man dieses Dreigestirn mit den Vorab-Stücken in Bezug setzen, verhärten sich die Stirn-Furchen: Ungeachtet der Qualität der neuen Stücke fehlt "Everything now" musikalisch der kleinste gemeinsame Nenner, der etwa das ähnlich sprunghafte "The suburbs" zusammenhielt. Die spezielle Arcade-Fire-Atmosphäre, der einzigartige Sog, den diese Band für gewöhnlich entfacht, all das gibt es dieses Mal auch nur auf Sparflamme. Gilt "Everything now" in einigen Jahren als launisches Song-Sammelsurium aus zynischer, gesellschaftskritischer Triebfeder? Schwer zu sagen, wir meckern schließlich auf hohem Niveau. Während Butler leicht resignierend die Misere des großen Ganzen greifbar macht: "I'm in the black again / Can't make it back again", haucht er zu In- und Outro. Wie bloß das Blatt umkehren? Ein radikaler Schnitt ist nötig. Arcade Fire jedenfalls rütteln auf, tanzen unbeirrt der gesellschaflichen Apokalypse entgegen, und haben angesichts des Zustands der Welt das wohl logischste Album aufgenommen, das möglich war.(Quelle: Plattentests)


Tracklist:
01 – Everything_Now (Continued)
02 – Everything Now
03 – Signs of Life
04 – Creature Comfort
05 – Peter Pan
06 – Chemistry
07 – Infinite Content
08 – Infinite_Content
09 – Electric Blue
10 – Good God Damn
11 – Put Your Money on Me
12 – We Don’t Deserve Love
13 – Everything Now (Continued)


Clip:
Everything now

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