U2 - Songs of innocence


Es stand auf Plattentests.de. Genauer gesagt am Ende der Rezension zu "No line on the horizon". Und Kollege Preußer hatte sich natürlich nichts Blödes dabei gedacht, als er schrieb: "Die letzte Freiheit bleibt die Selbstbestimmung. Und U2 gewähren sie." Rund fünfeinhalb Jahre später sieht es anders aus: Die Iren haben sich mit dem Album, das über Nacht ungefragt in den iTunes-Accounts von 500 Millionen Nutzern auftauchte, zu Hofschranzen des größten Hard- und Softwareherstellers der Welt gemacht. Zwar stellte Apple angesichts des massiven Shitstorms um das unheimliche Geschenk bald ein Tool bereit, mit dem man "Songs of innocence" von seinem Gerät schmeißen konnte – das Marketing-Debakel war aber nicht mehr zu verhindern und das Schlagwort "that U2 virus" geboren. So viel zur Selbstbestimmung, bevor ab dem 10. Oktober jeder individuell entscheiden darf, ob er sich das Ding zulegen möchte oder nicht.
Dabei ist der beabsichtigte Synergieeffekt aus Sicht der Beteiligten durchaus nachvollziehbar: Sonnenbebrillte Veteranen, die das Eisen nochmals schmieden wollen, machen gemeinsame Sache mit einem gewitzten Konzernchef, der sich ein ohnehin spektakuläres Präsentationsevent zusätzlich von den musikalischen Idolen seiner Jugend aufmotzen lässt – so weit, so clever. Aber nur theoretisch eine gute Idee, denn iPhone, iPad und iWatch ergänzen sich mit U2 – abgesehen von den stilisierten Namen beider Produktgruppen – nun mal ungefähr so günstig wie Ölsardinen mit Honig. Und stellt man sich vor, wie Bono und Tim Cook nun entgeistert in eine Welt hinausglotzen, die ihre milde Gabe nicht recht zu schätzen weiß, bekommt der Titel "Songs of innocence" schon beinahe eine amüsante Note. Auch wenn es am Ende nur Musik ist.
Das weiß auch Bono – oder tut wenigstens so. Und eröffnet dieses Album folgerichtig mit einer Hommage an einen seiner Helden, die jedoch die eine oder andere Unklarheit aufweist. Zum Beispiel darüber, was dieser Held verbrochen haben mag, um in "The miracle (of Joey Ramone)" mit unmotiviert dazwischenhauendem Holzfäller-Gebratze und somnambul jubilierendem Backgroundchor geehrt zu werden, der immer kurz davorsteht, "Ich war noch niemals in New York" zu intonieren – was sichtlich gelogen wäre. Denn so belustigend der Gedanke an einen juvenilen Paul Hewson sein mag, der, als er noch nicht Bono hieß, zu diesem Stück beim Punkrock-Konzert die Faust in die Höhe reckte: Ein guter Song geht anders. Und man meint, die treuen Fans förmlich aufatmen zu hören, wenn mit "Every breaking wave" ein verhuschter "With or without you"-Schwippschwager folgt.
Es ist die Stelle, an der dem Hörer allmählich klar wird, dass Andersartigkeiten im U2-Sinne trotz solider Qualität kaum zu erwarten sind. Kerniger "Desire"-Garagenblues, "Vertigo"-Schweinerock oder gar ein "Mofo"-Elektromonster – allesamt Fehlanzeige. Da können sich Danger Mouse, Paul Epworth und OneRepublic-Frontmann Ryan Tedder noch so viel Mühe am Mischpult geben: Ganz im Sinne ihres Hi-Tech-Mentors arbeitet sich das Quartett gekonnt, aber nur mäßig inspiriert an seiner ureigenen Art Stadionrock ab und hat dabei vor allem die Inhaber von Sitzplatz-Dauerkarten im Blick. Etwa bei Songs wie dem stromlinienförmigen "California (There is no end to love)" oder "Iris (Hold me close)", dessen Gitarrenlauf noch am ehesten an die Zeit gemahnt, als man von einem "signature sound" sprechen konnte. Viel ist das bis hierhin jedoch nicht gerade.
Erst spät kommt "Songs of innocence" doch noch in Schwung. Das knorrig marschierende "Volcano" dampft Post-Punk zu zweckmäßigem Minimalkompakt ein, "Cedarwood road" lässt zornige Riffs auf zurückgenommene Strophen prallen, während The Edge Green Days "Boulevard of broken dreams" zunickt. Doch auch mit Bonos Pathoskeule muss man immer rechnen – besonders im an sich hübschen, aber von überspanntem Falsett getrübten "Sleep like a baby tonight" oder bei den "soldier, soldier"-Rufen von "This is where you can reach me now", das an Bloc Partys "Banquet" nur noch Magerquark abkriegt. Gut also, dass Gastsängerin Lykke Li im Abschluss "The troubles" noch einiges hermacht. Mindestens zwei Fragen bleiben trotzdem: Möchten Sie "Songs of innocence" wirklich aus Ihrer Mediathek entfernen? Und: Wo ist der "Vielleicht"-Button? (Quelle: Plattentests)

Tracklist:
  1. The miracle (of Joey Ramone)
  2. Every breaking wave
  3. California (There is no end to love)
  4. Song for someone
  5. Iris (Hold me close)
  6. Volcano
  7. Raised by wolves
  8. Cedarwood road
  9. Sleep like a baby tonight
  10. This is where you can reach me now
  11. The troubles

Clip:
The Miracle Of (Joey Ramone)

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