Jeff Beck - Loud Hailer



Er hätte es sich leicht machen und ein weiteres Album mit atemberaubenden Instrumentals herausbringen können. Allein sein Ruf als einer der letzten „Guitar Heroes“ hätte ihm zufriedenstellende Verkäufe beschert, und wahrscheinlich wäre er auch - nur aufgrund seines Namens - wieder mal mit einem „Grammy“ für einen Track des Albums ausgezeichnet worden. Er hätte locker eine weitere Siegerrunde drehen und sich auf seinem Legendenstatus ausruhen können.
Doch Jeff Beck wäre nicht jener unberechenbare Neuerer, als der er längst in die Annalen des E-Gitarrenspiels eingegangen ist, hätte er nicht einen weiteren Versuch radikaler Selbsterfindung gestartet. „Ich hatte das Gefühl, wenn ich mich jetzt nicht ändere, dann bin ich für immer und ewig auf meine Rolle als Posterboy für ,Guitar World‘ festgelegt. Obwohl ich gefühlte vierhundert Mal auf dem Cover von Gitarren-Magazinen abgebildet war, erkenne ich mich darin nicht mehr wieder.“ Mit aller Macht schien sich der sprichwörtliche „Stunt Guitar Man“ von seinem Image als Hexer verabschieden zu wollen.
Der Zufall kam ihm dabei zu Hilfe: Auf einer Geburtstagsparty im Haus des Queen-Schlagzeugers Roger Taylor lernte Beck Anfang des Jahres die Sängerin Rosie Bones und die Gitarristin Carmen Vandenberg kennen - Frontfrauen der Londoner Post-Punk-Band Bones. Sie luden ihn zu einem ihrer Konzerte ein, und Beck war so angetan von dem, was er hörte, dass er spontan beschloss, mit Bones und Vandenberg sein neues Album aufzunehmen. Filippo Cimatti, der mit den Ladys schon im Studio gearbeitet hatte, bot an, das neue Album mit Beck zusammen zu produzieren, und komplettierte die Band durch die eingespielte Rhythmusgruppe aus dem Bassisten Giovanni Pallotti und dem Schlagzeuger Davide Sollazzi.
Dann ging alles ganz schnell: In nur zwei Wochen hatten Beck und seine jungen Mitstreiterinnen - Bones und Vandenberg könnten ohne weiteres als die Töchter des Zweiundsiebzigjährigen durchgehen - neun neue Songs geschrieben, zwei Instrumentalnummern sollten sich noch im Studio ergeben. Man wollte um jeden Preis ein zeitgemäßes Album herausbringen, das die vertrackt-ausgefeilten Beats des Ibiza-Dancefloors ebenso aufgriff wie die visionären Soundscapes aktueller Electronica. Doch schon die ersten Töne machen jedem klar: Bei allen Fluchtanstrengungen kann Beck aus seiner Haut nicht heraus, und die ist nun mal vom Blues rauh und rissig geworden.
Deshalb liefert er mit „Loud Hailer“ - ein anderes Wort für Megaphon - wider Willen auch eines der besten Gitarrenalben seiner Karriere ab. Denn das Sounddesign wirkt hypermodern: Dubstep versöhnt sich mit Industrial Music, wütender Garagen-Rock fordert die Doo-Wop-Seligkeit der Fünfziger heraus, Jimi Hendrix trifft Jack White, und beide besuchen Tom Morello. Was aber das neue Album von Becks bisherigen Veröffentlichungen am deutlichsten unterscheidet, ist sein politischer Anspruch. Mit seltener Offenheit bekennt er: „Ich wollte wirklich mal eine Aussage über ein paar schlimme Dinge machen, die heute in der Welt passieren. Mir gefiel die Idee, an einer Kundgebung teilzunehmen und mit einem Megaphon meinen Standpunkt herauszuschreien.“ Dennoch will er die Platte nicht als „Protest-Album“ verstanden wissen, eher als „illusionslose Beobachtung“.
Im einleitenden Heavy-Shuffle „The Revolution Will Be Televised“ nimmt Rosie Bones mit knurrigem Sprechgesang auch gleich mal unseren komfortablen Katastrophen-Konsumismus via TV aufs Korn: betroffen, aber gut gelaunt im Fernsehsessel. Es ist die ernüchterte Antwort auf Gill Scott-Herons berühmtes Manifest „The Revolution Will Not Be Televised“ von 1970 - damals ein hoffnungsfroher Aufruf an die afroamerikanische Bevölkerung, sich aus ihrer passiven Rolle als Medien- und Drogenkonsumenten zu befreien und selbst die Bürgerrechte durchzusetzen.
In „Right Now“ geht es um grassierenden Selbstinszenierungswahn und flüchtige Berühmtheit. Wenn Rosie mit kratzig-raspelnder Stimme von den „plastic fantastic little creatures“ singt, hat sie den Instant-Ruhm von künstlichen Reality-Shows wie „American Idol“ klar im Blick. Mit „Thugs Club“ attackiert die Band neben George W. Bush (ist der nicht längst Geschichte?) auch den Medienmogul Rupert Murdoch mit seinen inszenierten News-Shows. Während in „The Ballad Of The Jersey Wives“ alte Verschwörungstheorien rund um 9/11 wieder aufgekocht werden, kommt „O.I.L. - Can’t Get Enough Of That Sticky Stuff“ als mitreißende Funk-Nummer im Sexy-Prince-Stil daher und rechnet mit einer maßlosen Ölindustrie ab. Die bittere Ballade „Scared For The Children“ sorgt sich dagegen um die zunehmend entfremdete Kindheit der „digital natives“ und beklagt den unweigerlichen Verlust jugendlicher Unschuld.
Doch sind es nicht diese gutgemeinten sozialen Kommentare, die den Hörer faszinieren. Man muss weder Beck-Fan noch erklärter Liebhaber der E-Gitarre sein, um die rohe, undomestizierte Kraft und unverfälschte Leidenschaft zu spüren, die aus dieser Musik spricht. Immer wieder umspielt Jeff mit melodiösem Feedback den Gesang von Bones. Allein sein Gitarrenspiel hält das ganze Stil-Gemisch zusammen und verzahnt sich perfekt mit Vandenbergs Rhythmusarbeit. Und es ist noch alles da: von melodiösen Tondehnungen mit dem Vibratohebel und rasanten Trillerfiguren bis zum sprachähnlichem Kreischen und einem delikaten Gespür für hypnotische Wendungen. Es gibt sogar noch mehr: In der bitteren Ballade „Scared For The Children“ spielt Beck einige der besten Gitarrenpassagen seines Lebens. Schon der erste Ton seines Solos dringt wie ein zielsicherer Stich in unsere Herzkammer. Das meisterhafte Spiel der Kontraste zwischen langgezogenen Einzelnoten und verwirrend-schwirrenden Läufen, die ständig wechselnde Farbgebung des Gitarrensounds, die unfassbar eleganten Legato-Passagen - all das erneuert einmal mehr Becks Ruf als unvergleichlicher „Guitar Slinger“.
„Nie war mir Jimi wichtiger als heute.“ Becks überraschende Hommage an Hendrix findet nicht allein im zweiten Solo-Part von „Scared For The Children“ seine Beglaubigung - „Little Wing“ lässt grüßen! -, sondern ebenso im Wah-Wah-Auftakt von „Right Now“. Von ganz anderem Kaliber sind die beiden einzigen Instrumentalnummern des Albums: Während sich im brachialen „Pull It“ elektronisch entseelter Industrial-Rock Bahn bricht (Roboter tanzen Pogo), klingt das atmosphärisch-verhangene „Edna“ wie ein Loblied auf Walgesänge. Im country-verwandten Schluss-Song „Shrine“ plädiert Rosie dann noch einmal für eine pazifistische Grundhaltung im Alltag und fragt scheinbar naiv: „Must we destroy what we don’t understand?“ Becks perlende Melodielinien schmiegen sich wie ein sanftes Versprechen um die Suchbewegungen der Stimme. Selten klang sein Gitarrenspiel vertrauter und überraschender zugleich. 
Vor fünfzig Jahren - nach seinem Rauswurf bei den Yardbirds - startete er mit dem bahnbrechenden Titel „Beck’s Bolero“ seine Solo-Karriere: Bis heute ist sie eine Folge von überraschenden Häutungen und Herausforderungen geblieben. Er ist der letzte Dinosaurier seiner Art. Das glorreiche Triumvirat Eric Clapton - Jeff Beck - Jimmy Page, das einst den Typus des bluesbeseelten Gitarrenvirtuosen begründete, ist längst zerfallen. Während Page sich seit Jahren nur noch neuen Remixen seiner Led-Zeppelin-Vergangenheit widmet, muss man befürchten, dass Clapton wegen seiner jüngst bekanntgewordenen Nervenerkrankung vielleicht gar nicht mehr zur Gitarre greifen kann. „Loud Hailer“ macht jetzt unmissverständlich klar: Jeff Beck ist der einzig verbliebene „Hüter der Flamme“. (Quelle: FAZ)


Tracklist:
01. The Revolution Will Be Televised
02. Live in the Dark
03. Pull It
04. Thugs Club
05. Scared for the Children
06. Right Now
07. Shame
08. Edna
09. The Ballad of the Jersey Wives
10. O.I.L. (Can't Get Enough of That Sticky)
11. Shrine


Clip:
Right now

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