Jack White - Boarding House Reach




Wenn man sich vor Augen führt, was Jack White so alles in den vergangenen knapp 20 Jahren getrieben hat, kriegt man allein schon vom Lesen einen Burnout: Elf Studioalben mit drei verschiedenen Bands, zwei Soloalben, diverse Soundtrackbeiträge und Kollaborationen, die Gründung eines eigenen Plattenlabels und dazwischen hatte er auch noch genug Zeit, ein Kinderbuch zu schreiben und im Bürgerkriegs-Epos "Unterwegs nach Cold Mountain" mitzuspielen. Dafür, dass wir beim Detroiter von einem der künstlerisch rastlosesten Rockmusiker seiner Zeit und Größenordnung sprechen, hätte es also nicht unbedingt nochmal ein eigenes Zeugnis gebraucht, doch das hält ihn natürlich nicht davon ab, mit "Boarding house reach" genau das abzuliefern. In seinem 21. Karriere- und 43. Lebensjahr hat White nicht weniger als sein ambitioniertestes und radikalstes Werk überhaupt geschaffen, eine mit unzähligen Ideen überfrachtete Kulmination purer Experimentierfreude, die sich einen Dreck um irgendwelche Genre- oder Songgrenzen schert.
Die Momente, in denen sich dieses Biest mal an konventionelleren Strukturen entlang bewegen darf, hätte Boris Jelzin an seiner linken Hand abzählen können. Da ist in vorderster Front der vorab veröffentlichte Opener "Connected by love", eine von subtiler Elektronik gestützte Gospelrock-Nummer, die mit ihrem Aufbäumen am Ende und Whites immer noch nicht wirklich guten, aber unglaublich leidenschaftlichem Gesang zwar einen qualitativen Höhe-, aber sicherlich keinen Orientierungspunkt für den weiteren Verlauf des Albums darstellt. Ansonsten gibt es noch den in bester White-Stripes-Manier brutzelnden Riff-Rock von "Over and over and over", der noch am ehesten den 2014er-Vorgänger "Lazaretto" ins Gedächtnis ruft, und kurz vor Schluss lässt sich White tatsächlich noch zu einer schnörkellos schönen Country-Ballade namens "What's done is done" hinreißen. Für den Rest des Albums geben sich er und sein Team aus ungemein talentierten musikalischen Mitstreitern – u.a. Drummer Louis Cato und Bassist NeonPhoenix, die schon für Beyoncé, Kanye West oder Q-Tip gespielt haben – aber komplett der Ausuferung hin, vermengen Elemente aus Soul, Funk, Jazz und HipHop zu einem einzigen spielfreudigen Exzess.
"Who's with me?" brüllt White immer wieder in den astreinen Stevie-Wonder-Jam von "Corporation" hinein, als befürchtete er, seine Hörer irgendwo zwischen den Soundfragmenten zu verlieren. Solche Sorgen sind aber unbegründet, sperrig ist "Boarding house reach" nämlich nie, dafür sind die Grooves zu infektiös und die ganze Chose einfach viel zu spaßig. Da stört es dann auch überhaupt nicht, dass der Detroiter in der Oldschool-HipHop-Verbeugung von "Ice station zebra" ungefähr so gut rappt wie Weird Al Yankovic. Allzu ernstnehmen sollte man das alles sowieso nicht: "Everything you've ever learned" kombiniert Gameshow-Musik mit einem Punksong, während "Hypermisophoniac" auf einem Fundament aus atonalem Jazz-Piano und roboterhaften Synthie-Geräuschen baut. Seinem Lieblingsinstrument gibt White dann am meisten Leine im fantastisch virtuosen "Respect commander", das mit seinem Laut-Leise-Spiel von ruhigeren Blues-Ansätzen und gewaltigen Gitarrenausbrüchen eine Verwandtschaft zu "Ball & bisquit" andeutet, mit Drum-Loops und einer zerschossen-brillanten Basslinie aber auch klarmacht: Mit dem kultgewordenen, minimalistischen Garagensound seiner White Stripes hat der Jack White aus 2018 nicht mehr allzu viel zu tun.
"Boarding house reach" ist in seiner überbordenden Kreativität und konsequenten Verweigerungshaltung ein beeindruckendes künstlerisches Statement, allerdings auch nicht das ganz große Meisterwerk, das man Whites Genie durchaus noch zugestanden hätte. Der Flow hakt an manchen Stellen – auf das akustische Interlude "Ezmeralda steals the show" folgt unmittelbar das trip-hoppige Synthmonster "Get in the mind shaft", das auch auf Thundercats "Drunk" seinen Platz gefunden hätte – und man muss konstatieren, dass es auch Künstlerinnen und Künstler gibt, die ähnlich viele Ideen in konzisere Songs verpacken können. Das ist aber überhaupt kein Kritikpunkt, denn es ist gerade das Eklektizistische, das das Album so reizvoll macht, es ist auch packend von Anfang bis Ende und White und Konsorten fühlen sich in jedem Genre so sicher, als hätten sie nie etwas anderes gespielt. Ganz zum Schluss schafft das zarte, romantisch mäandernde Pianostück "Humoresque" dann das Kunststück, nochmal alles bisher Gehörte auf links zu drehen, White klingt wieder anders als je zuvor in seiner Karriere, aber nahbar und nicht so entrückt-bekloppt wie in den 40 Minuten zuvor. Bekloppt ist hier nur die Entstehungsgeschichte – besagter Song ist eine Neuninterpretation eines von Antonín Dvorák im späten 19. Jahrhundert komponierten Stücks mit Lyrics von Howard Johnson, die Al Capone im Gefängnis in einem Musical-Manuskript neu zusammengetragen hat, welches White dann auf einer Aktion erstand. Ob das schon ausreicht, damit sich dieser so umtriebige Gitarrist, Labelboss und Kinderbuchautor jetzt auch noch Historiker in die Vita schreiben kann? (Quelle: Plattentests)


Tracklist:
01 Connected by Love
02 Why Walk a Dog?
03 Corporation
04 Abulia and Akrasia
05 Hypermisophoniac
06 Ice Station Zebra
07 Over and Over and Over
08 Everything You've Ever Learned
09 Respect Commander
10 Ezmerelda Steals the Show
11 Get in the Mind Shaft
12 What's Done Is Done
13 Humoresque


Clip:
Over and over and over

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