Bon Iver - Bon Iver

Zerbrechlichkeit trifft auf Opulenz, amerikanische Folklore auf seichte Digitalität. Für sein zweites Werk "Bon Iver, Bon Iver" verlässt Justin Vernon seine Hütte und macht den Sonnengruß. Für die einen ist es ein Buch, für die anderen ein guter Film. Ob Unterhaltungsmedien, Alkohol, Drogen oder Sex – der Eskapismus hat viele Gesichter. An sich ist die Weltflucht eine empathische Tat, um jene Ruhe und Abgeschiedenheit zu finden, die die Alltagshektik allzu selten bereithält. Bandauflösung, Beziehungsende, Pfeiffersches Drüsenfieber und der Verlust von 220 Dollar beim Online-Pokern – gleich mehrere Umstände zogen Justin Vernon Ende 2006 in die Jagdhütte seines Vaters. Abgeschnitten vom Rest der Welt erschuf er im Alleingang das spärlich instrumentierte Debüt "For Emma, Forever Ago", das sich in Windeseile von einem folkigen Singer/Songwriter-Kleinod zu einem bahnbrechenden Hit-Album entwickelte. Neun Songs, die zusammen eines der besten Alben der Nullerjahre ergeben. Wer ein derartiges Gefühlsgebirge in die Musiklandschaft setzt, der gerät mehr oder minder unfreiwillig ins Aufmerksamkeitsvisier. Als die Journaille allmählich die Entstehungsgeschichte von "For Emma" zu einem sagenumwobenen Mythos deklarierte, setzte Vernon den Jubelarien Kanye West vor den Latz. Kanye West? Was hat der eklat-affine Rapper mit dem von Isolationskreativität geküssten Knaben zutun? Ausgangspunkt dieser scheinbar paradoxen Zusammenkunft war Bon Iver's Song "Woods". Die von Autotune gesteuerte Cyborg-Ballade der 2009er EP "Blood Blank" begeisterte West derart, dass er Vernon anrief und ihn fragte, ob er den Track für sein eigenes Opus Magnum "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" neu einspielen dürfe. Gefragt, getan. Die beiden verbindet seit jeher eine Freundschaft. Was nach einer verwirrenden Anekdote klingt, ist in Wahrheit eine der Ursachen für die gewaltige Größe des neuen Werks "Bon Iver, Bon Iver". "Bon Iver, Bon Iver" – Album-Stream Wabernde Folk-Riffs lösen die bedächtige Stille bei der Albumeröffnung "Perth" ab. Ein marschierender Rhythmus tritt hinzu, ehe Vernons schwebende Stimme dazwischen huscht. Auch wenn sich der Song kurz zur Ruhe setzt, lauert das Klimax-Prinzip derart gekonnt zwischen den Tönen, dass der Track letztlich vollends Entfaltung erfährt. Soll heißen: Selbstmitleid ade, Justin Vernon tritt aus der Hütte und macht den Sonnengruß. Weg vom Lo-Fi-Charakter, wartet die LP mit einer pulsierenden Gemengelage aus seichten Synthi-Schichten und einem stolzen Arsenal aus Streichern, Banjos, Bläsern und Pedal-Steel-Gitarren auf. Die komplexen Harmonien und deren ausschweifende Üppigkeit unterstreichen den ambitionierten Aufbruch von einem Solo- zu einem begeisternden Band-Projekt. Songs sind hier nicht einfach nur Songs, sondern Kompositionen. "Michicant", das eindrucksvoll und atemberaubend mit dem Thema Kindheit spielt, oder das stilvoll arrangierte "Towers" folgen nämlich keineswegs der konventionellen Songstruktur. Mit Liebe fürs Detail und einer ätherischen Atmosphäre werden fließende Übergange erschaffen, die zum Träumen einladen. "And at once I knew I was not magnificent" raunt Vernons markante Falsett-Stimme im bezaubernden "Holocene" – auch auf "Bon Iver, Bon Iver" wird die Intimität der musikalischen Darbietung derart hochgehalten, dass sich das Zuhören zu einem Verlegenheitsgefühl verwandelt, immerhin treten wir in die Privatsphäre einer offensichtlich sensiblen Seele ein. Dennoch: Dass der Schmerz und Einsamkeit auf dem neuen Song-Zehner in den Hintergrund treten, beweist auch seine konzeptionelle Öffnung. Nicht nur Saxophonist Colin Stetson (Tour-Mitglied von Arcade Fire), gar eine Vielzahl an Musikern aus seinen Nebenprojekten Gayngs oder Volcano Choir partizipierten im Studio. Making of Bon Iver Album Art – Part 1 Selbst das neue Cover untermauert diese Erweiterung. Präsentierte "For Emma" noch ein wirres, geheimnisvolles und verschlossenes Bild, so bietet das neue Artwork einen universellen Einblick in die winterliche Landschaft, mit all ihren eskapistischen Facetten. Gerade die Heimat stellt für Vernon eine Konstante im Schaffen dar. Gleich mehrere Songs sind Verweise auf mehr oder weniger reale Orte, die sich mitunter in seinem Heimatstaat Wisconsin befinden, wie "Perth", "Lisbon" oder auch "Wash"-ington – Koordinaten einer imaginären Panoramareise. Wen wundert's: Der 30-jährige Herr trägt seinen Staat als Tattoo auf der Brust. Es ist diese Aufrichtigkeit – selbst "Calgary" mit seiner Melange aus amerikanischer Folklore und sanfter Digitalität weiß zu verzücken –, die "Bon Iver, Bon Iver" zu einem wahren Ohrenschmaus macht. Bon Iver – "Calgary" Egal wie unaufdringlich, fragil und dennoch einladend das Album auch sein mag, so hält es ein wahres Klangrätsel zum Abschluss bereit. "Beth/Rest" ist eine durch den Autotune-Äther geschickte, beinahe widerwärtige 80er-Jahre Synthi-Pop-Schnulze, die nur aufgrund des Talentes dieses introspektiven Mannes ein wundersames Antlitz erhält. Die Symbiose aus rückhaltloser Natürlichkeit und synthetisiertem Pomp katapultiert Justin Vernon in den Folk-Tempel mit illustren Gästen wie Iron & Wine, Fleet Foxes oder Sufjan Stevens. Die Treppe zum Olymp ist bereits gebaut. (Quelle:motor.de)

Tracklist:
1. "Perth" 4:22

2. "Minnesota, WI" 3:52
3. "Holocene" 5:37
4. "Towers" 3:08
5. "Michicant" 3:42
6. "Hinnom, TX" 2:45
7. "Wash." 4:59
8. "Calgary" 4:10
9. "Lisbon, OH" 1:33
10. "Beth/Rest" 5:17

Clip:
Calgary

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