Jimmy Eat World - Integrity blues



Es ist schon seltsam, dass der Mensch in der Lage ist, zu durchaus abstrakten Gebilden wie Fußballvereinen oder der Musik eine derart starke Bindung aufzubauen. Besondere Emotionen und Erinnerungen schaffen dabei Verbundenheit, die oft länger hält als gute Freundschaften – von Lebensabschnitts-Partnerschaften und so mancher Ehe ganz zu schweigen. Die Beziehung zu Jimmy Eat World, der mittlerweile fast totgesagten Emorock-Band aus Arizona, rührt bei vielen tief. Umso erschütternder, dass selbst die schärfste Fanbrille im Falle der letzten beiden Werke "Invented" und "Damage" nicht vertuschen konnte, dass die Truppe, einst Schöpfer der berührenden Meilensteine "Clarity", "Bleed American" und "Futures", nicht nur in einer Kreativitätskrise steckt, sondern es sich im Beliebigkeits-Sumpf bequem gemacht zu haben schient.
War das mit Jim Adkins und Co. also doch nur eine Liebe auf Zeit? Hält man nicht schon viel zu lange an Jimmy Eat World fest, ohne wenigstens ein paar tolle Momente zurückzubekommen? Wie an einer einst innigen Beziehung, in der der Partner längst nur noch guter Freund ist? Wieder war einem etwas flau im Magen, als "Integrity blues", das neunte Studioalbum, angekündigt wurde. Nicht viel besser das Gefühl, als der zweischneidige Vorbote "Get right" ertönte, der mit seinem leicht verschrobenen Antlitz zwar emanzipiert wirkt vom Pop-Einheitskostüm des "Damage"-Ballabends, aber dennoch nicht so schnieke ist. Ist die Vorfreude auf den Pärchenabend im Keller und mündet die Misslaune in Streit, rettet bekanntlich nur noch Versöhnungssex den gemeinsamen Abend.
Tatsächlich gelingt Jimmy Eat World ihr auf lange Sicht wohl nachhaltigstes Album seit "Futures". Es benötigt dieses Mal keine verschmierten Fan-Gläser auf der Nase, um festzustellen, dass sich etwas getan hat. Die passend betitelte Standortbestimmung "You with me" begrüßt zum Auftakt mit schöner Melodie, bewahrt Seele und baut Tiefgang auf, der ein wenig an "Futures"-Zeiten erinnert – und Vertrautheit zu einer rein positiven Erscheinung macht, mit der auch das feinfühlige "It matters" punkten kann. Tatsächlich ertappt man sich spätestens beim zweiten Durchgang dabei, "Sure and certain" mit all seiner Catchyness den Ohrwurmstatus vollends zu gönnen, und mit den rauen, dunklen Gitarren, die Produzent Justin Meldal-Johnsen (M83, Paramore) dem Popsong gekonnt in den Nacken mischt, schwinden die Schatten der letzten Jahre. Neues Selbstbewusstsein versprüht auch das nachdenkliche "Pretty grids", dem die Zurückhaltung erstaunlich gut steht.
Offensiv versuchen Jimmy Eat World, die Lockerheit früherer Tage am Hemdzipfel zu greifen. "Through" hat dabei zwar nicht die Klasse eines "If you don't, don't", bestätigt allerdings die Hoffnung, dass die Truppe nach wie vor zu besseren Collegerock-Nummern in der Lage ist als zuletzt. Und während sie mit dem feinen "You are free" ihr Talent zu melancholischen Popsongs spielend untermauert, schleicht sich mit "Pass the baby" ein echtes Experiment ein, das in kühler Electroncia- und Synthie-Atmosphäre startet und mit einem ungewohnt wilden Riff-Finale auskehrt. Und beim leicht verstörenden, von Streichern getragenen und gebetsartig dargebotenen Titelstück schwingt eine romantische Traurigkeit mit. Jimmy Eat World zünden mit "Integrity blues" kein Instant-Feuerwerk, doch bringen endlich wieder mehr Intimität in ihr Schaffen. Es lohnt sich also, die nötige Zeit zu investieren, die eine Frischkur in einer langjährigen Beziehung manchmal braucht. In den Armen liegen darf man sich dann spätestens während der letzten vier Minuten von "Pol Roger", dem Schluss-Epos dieser Platte. Ein Tränchen verdrückt.(Quelle: Plattentests)


Tracklist:
  1. You with me
  2. Sure and certain
  3. It matters
  4. Pretty grids
  5. Pass the baby
  6. Get right
  7. You are free
  8. The end is beautiful
  9. Through
  10. Integrity blues
  11. Pol Roger
Clip:
Sure and certain

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